Ayse ist verstummt. Seit sechs Wochen spricht sie nicht mehr. Kein Wort.
Nein, nein, ihre Stimme ist in Ordnung. Sie kann laut lesen, sie geht einkaufen, sie verständigt sich mit ihren MitschülerInnen.
Nicht mit uns.
Ayse ist ein schwaches, blasses, gutes Mädchen. Irgendein Problem drückt ihr die Kehle zu. Wir erfahren es nicht. Sie schweigt. Wir laden ihre Eltern vor, wir schicken sie zum Psychologen - sie schweigt. Ihre Eltern auch, Ehrensache?
So entstehen Gerüchte:
"Ich glaube, es geht um das Verschleiern. Ihr Vater dürfte ein sehr gläubiger Muslim sein und sie sollte längst das Kopftuch tragen."
Ihr Vater macht einen vernünftigen Eindruck und versichert uns, das Mädchen nicht zu zwingen.
"Oder es hat etwas mit der Aufenthaltsgenehmigung zu tun."
Man liest ja in den Zeitungen, dass in Österreich Kinder aus den Klassen gerissen werden, um sie in ihre angebliche Heimat abzuschieben.
"Ich habe gehört, dass sie verheiratet werden soll."
Gerüchte und Betroffenheit. Ehrliche Antworten erhalten wir von niemanden. Wir sollen alles richtig machen und alles gut, aber weder Eltern noch Behörden oder Ärzte geben uns brauchbare Anhaltspunkte.
Ayse trägt die ganze Last eines Flüchtlingskindes aus dem Balkankrieg: Armut, Gewalt, Traditionen, Religion, Fremdheit, Einsamkeit, Sprach- und Integrationsmängel. Ein ernstes, muslimisches Mädchen in einer libertinen Spaßgesellschaft.
Die Klassenkameraden haben sich an ihre Anwesenheit gewöhnt. Sie wird übersehen. Jetzt auch nicht mehr gehört.
Letzte Stunde bleibt sie bei mir stehen. Ich sehe in ihre wässrigen Augen. Ich spüre, dass sie etwas sagen will, aber kein Ton entkommt ihrem Mund. Angewurzelt bleibt sie stehen, schaut mich an. Ich rede, sie nicht.
"Wie sollen wir mit ihr umgehen?", fragen wir einander Achsel zuckend.
"Ich lasse ihr noch Zeit, sie braucht jetzt Schonzeit, keine Schule", verteidige ich meine Strategie, keine Mitarbeit und keine Wiederholung von ihr einzufordern. Ich setze darauf, dass sie zu ihren guten Leistungen zurückfinden wird.
"Ich nicht", erläutert eine Kollegin ihr gegenteiliges Vorgehen. "Mir ist es gelungen, sie aus ihrer Lethargie herauszureissen. Ich hole sie regelmäßig in die Realität zurück. Ich fordere sie auf, ich binde sie ein, ich lass' nicht nach. Es funktioniert."
Was ist richtig, was ist gut?
Auch die Schulpsychologin findet keine klare Antwort.
Zwei Monate später: Ayse spricht wieder. Lacht wieder. Arbeitet wieder. Von einem Tag auf den anderen. "Das war eine private Sache," erklärt sie.
Offenbar ist ihre Strategie des stummen Widerstandes aufgegangen. Vermute ich.
Nein, nein, ihre Stimme ist in Ordnung. Sie kann laut lesen, sie geht einkaufen, sie verständigt sich mit ihren MitschülerInnen.
Nicht mit uns.
Ayse ist ein schwaches, blasses, gutes Mädchen. Irgendein Problem drückt ihr die Kehle zu. Wir erfahren es nicht. Sie schweigt. Wir laden ihre Eltern vor, wir schicken sie zum Psychologen - sie schweigt. Ihre Eltern auch, Ehrensache?
So entstehen Gerüchte:
"Ich glaube, es geht um das Verschleiern. Ihr Vater dürfte ein sehr gläubiger Muslim sein und sie sollte längst das Kopftuch tragen."
Ihr Vater macht einen vernünftigen Eindruck und versichert uns, das Mädchen nicht zu zwingen.
"Oder es hat etwas mit der Aufenthaltsgenehmigung zu tun."
Man liest ja in den Zeitungen, dass in Österreich Kinder aus den Klassen gerissen werden, um sie in ihre angebliche Heimat abzuschieben.
"Ich habe gehört, dass sie verheiratet werden soll."
Gerüchte und Betroffenheit. Ehrliche Antworten erhalten wir von niemanden. Wir sollen alles richtig machen und alles gut, aber weder Eltern noch Behörden oder Ärzte geben uns brauchbare Anhaltspunkte.
Ayse trägt die ganze Last eines Flüchtlingskindes aus dem Balkankrieg: Armut, Gewalt, Traditionen, Religion, Fremdheit, Einsamkeit, Sprach- und Integrationsmängel. Ein ernstes, muslimisches Mädchen in einer libertinen Spaßgesellschaft.
Die Klassenkameraden haben sich an ihre Anwesenheit gewöhnt. Sie wird übersehen. Jetzt auch nicht mehr gehört.
Letzte Stunde bleibt sie bei mir stehen. Ich sehe in ihre wässrigen Augen. Ich spüre, dass sie etwas sagen will, aber kein Ton entkommt ihrem Mund. Angewurzelt bleibt sie stehen, schaut mich an. Ich rede, sie nicht.
"Wie sollen wir mit ihr umgehen?", fragen wir einander Achsel zuckend.
"Ich lasse ihr noch Zeit, sie braucht jetzt Schonzeit, keine Schule", verteidige ich meine Strategie, keine Mitarbeit und keine Wiederholung von ihr einzufordern. Ich setze darauf, dass sie zu ihren guten Leistungen zurückfinden wird.
"Ich nicht", erläutert eine Kollegin ihr gegenteiliges Vorgehen. "Mir ist es gelungen, sie aus ihrer Lethargie herauszureissen. Ich hole sie regelmäßig in die Realität zurück. Ich fordere sie auf, ich binde sie ein, ich lass' nicht nach. Es funktioniert."
Was ist richtig, was ist gut?
Auch die Schulpsychologin findet keine klare Antwort.
Zwei Monate später: Ayse spricht wieder. Lacht wieder. Arbeitet wieder. Von einem Tag auf den anderen. "Das war eine private Sache," erklärt sie.
Offenbar ist ihre Strategie des stummen Widerstandes aufgegangen. Vermute ich.
teacher - am Sonntag, 30. Januar 2011, 17:05