Jaja (Gast) meinte am 15. Dez, 16:23:
Das ewige Klagen über die fehlende Motivation
Nur ein paar Anregungen:1. Es kann sich keine (nur wenig) Motivation entwickeln, wenn Kinder und Jugendliche in ihrer persönliche Autonomie nicht ernst genommen fühlen, wenn sie also dazu degradiert werden, permanent die Befehle (Aufgaben) des Lehrers auszuführen. Gerade in dieser Zeit, wo sie sich durch die Medien geprägt in vielen Bereichen kompetent fühlen und oftmals in diesen Bereichen ja sogar kompetenter als Lehrer sind.
2. Motivation ist eng veknüpft mit Persönlichkeitsbildung. Wie unterstützt euer Unterricht, die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler? Ohne Persönlichkeitsbildung gibt es keine innere Motivation.
3. Intelligenz ist die wichtigste Eigenschaft für Schulerfolg (gibt Untersuchungen dazu). Danach folgt die Motivation. Sie ist DIE Eigenschaft, auf die Lehrer echten Einfluss nehmen können. Viele tun es nicht - leider. Weshalb sie es nicht tun, ich weiß es nicht. Sie müssten sich vermutlich eingestehen, dass sie ihr Leben lang einer Illusion erlegen waren, die da heißt: Lernen geschieht streng systematisch, systematisch nach Zeit und sachlichem Inhalt, nach dem Fach. Sie müssten sich eingestehen, dass Individualität und individuelle Persönlichkeitsbildung unser Schulsystem kaum zulässt.
Lernen quo vadis? (mit Animation)
https://www.skolnet.de/medien/lernen-im-21-jahrhundert/
Ersticken Schulen die Kreativität der Schüler? (mit dt. Untertitel)
https://www.skolnet.de/allgemein/behindern-schulen-kreativitat/
Bring on the learning revolution (mit dt. Untertitel)
https://www.skolnet.de/forschung/bring-on-the-learning-revolution/
Und für die, die so lange durchgehalten haben:
Why teaching is not like making motorcars
https://www.classroom20.com/video/sir-ken-robinson-why-teaching
BIA (Gast) antwortete am 15. Dez, 19:42:
Ich schließe mich hier teilweise an - die Krux aber ist die: ziemlich oft hat der Lehrer von Berufs wegen Themen durchzunehmen, die mit 100% Sicherheit mit der persönlichen Autonomie des Lerners kollidieren. Das ist aber nicht immer schlecht - ich hab irgendwo gelesen, Lernen finde "außerhalb der Komfortzone" statt. Und dorthin muss einen in der Regel irgendeiner schubsen.Das gilt auch für Erwachsene, aber Beispiele aus meinen Klassen:
Von meinen 60 Schülern hätten vielleicht zwei freiwillig für ihr Portfolio ein Buch in Originalsprache über ein krebskrankes Kind gelesen. Nachdem ich sie aber ALLE dazu zwinge (jawohl, nix persönliche Autonomie), tun sie's doch, jammern die ersten 10 Seiten lang, dass alles soooo schwer... und überhaupt, dann geben sie das Jammern auf und am Schluß schreiben sie, dass sie das Buch super fanden (oder auch nicht) und jetzt auf jeden Fall besser lesen können als vorher. Zusätzlich haben waren sie gezwungen, so faszinierende Fragen des Daseins wie "Was passiert, wenn ich sterbe?" zu überdenken, was hoffentlich ihrer Persönlichkeitsentwicklung ein bissi dient.
Generell gebe ich jaja aber recht, das System ist räumt seinen Lernern nicht gerade viele Freiräume ein und macht es mitunter den Lehrern auch nicht leicht, welche zu schaffen.
BIA (Gast) antwortete am 15. Dez, 19:44:
NAchtrag
Und wie sich manche Mädels anfangs weigern, wenn sie die Bedienung des Schreibprogramms auf ihren kleinen Laptops lernen sollen...unsägliches Leid. Und irgendwann können sie's dann und sind von sich selbst überrascht. Von wegen mediengeschult und megakompetent...lol
Jaja (Gast) antwortete am 15. Dez, 20:55:
Die Krux liegt hierin BIA
"Wenn ich nur darf, wenn ich soll, aber nie kann, wenn ich will, dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.Wenn ich aber darf, wenn ich will, dann mag ich auch, wenn ich soll, und dann kann ich auch, wenn ich muss.
Denn die, die können sollen, müssen auch wollen dürfen."
Aus eigener Erfahrung als Lehrer, der viel Autonomie bei den Kindern zulässt, kann ich oben genanntes Zitat nur unterstreichen. Die Kinder müssen sich ja nicht alles aussuchen dürfen. Aber die Bereitschaft bei den Schülern sich auch auf mir wichtige Themen einlassen zu WOLLEN und mich auch als Quelle von Ideen und Impulsen anzuerkennen ist ungleich größer, wenn sich die Kinder als selbstbestimmtes Wesen erfahren, als wenn ich der Klasse jeden Tag den Schulcasper machen würde.
Übrigens, kein Schüler scheitert an Mathematik. Aber viele Schüler scheitern an etwa 2000 Seiten Mathematik, die sie während ihrer Schulzeit abzuarbeiten haben.
Jaja (Gast) antwortete am 15. Dez, 21:13:
Schulcasper
Schulkaspar, -casper?? ...egal, auf jeden Fall habe ich mich bis vor etwa 3 Jahren wirklich so gefühlt! Immer im Mittelpunkt, immer gestresst, in der Schule empfand ich meine Aufgabe so, als ob ich Themen in die Köpfe zu stopfen hätte, es ging nicht um die Schüler, sondern um die Themen. Ich hatte kaum Zeit, mich auf einzelne Schüler einzulassen. Heute kann ich mich bedenkenlos mehrere Tage am Stück bis zu einer Stunde am Stück einer kleinen Gruppe von Kindern widmen, während der Rest der Klasse weiterlernt und dieses sich Unbeobachtetfühlen eben nicht ausnutzt. Die Beziehungen, die sich bei einer derartigen persönlichen Zusammenarbeit zu den einstellen, sind sehr bereichernd, weil sie mir zeigen, dass ich die Kinder tatsächlich individuell erreiche und ich mich so unmittelbar als zugehörigen Teil ihrer Lern- und Persönlichkeitsentwicklung empfinde.
Jaja (Gast) antwortete am 15. Dez, 21:16:
Berufszufriedenheit und Selbstwirksamkeit von Lehrern hängen, denke ich, seeeeehr stark miteinander zusammen, bedingen sich sicherlich auch!
BIA (Gast) antwortete am 15. Dez, 21:53:
Jaja, das glaub ich auch. Ich habe aber auch die ERfahrung gemacht, dass viele Lehrer sich im klassischen Unterricht nicht für besonders wirksam halten, andererseits aber auch nicht das Risiko eingehen, mit einer Arbeitsform zu scheitern, die den Schülern größere Freiheiten an die Hand gibt. Ich arbeite an meiner Schule in einem Projekt mit dem Schwerpunkt "Vielfalt der Unterrichtsformen". Die Bereitschaft, sich darauf einzulassen - und sei's mit einem Miniversuch im Ausmaß einer Unterrichtsstunde - ist sehr zögerlich. Wenn's dann klappt - z. B. bei Portfolio - kann es der Kollege gar nicht glauben, dass so schöne Ergebnisse rauskommen und googelt stundenlang im Internet, um zu recherchieren, WO der Schüler abgeschrieben hat. Hat er aber nicht. Großes Erstaunen. Schüler tun von ALLEINE mehr als das Notwendigste? WT..??? Das Wagnis Portfolio wurde aber nur eingegangen, weil die Schulleitung darauf gedrängt hat und "Erlaubnis zum Scheitern" gab. Sonst gibt's aber oft so einen Teufelskreis zu beobachten -> Klassischer Unterricht funktioniert nur bedingt -> Lehrer wird frustriert -> Lehrer probiert was anderes aus und erhofft Linderung seiner Leiden -> Schüler haben neue Methode nicht geübt und sind auf völlig anderes Verhalten getrimmt -> Ergebnisse entsprechen nicht den Erwartungen -> Lehrer ist noch frustrierter -> Lehrer macht nie wieder was anderes und erzählt erbittert im Lehrerzimmer, dass die Schüler immer blöder werden. Fein...
So, jetzt wieder zur Schulaufgabenvorbereitung!
steppenhund antwortete am 15. Dez, 22:21:
2000 Seiten Mathematik?
Nanu, soviel habe ich ja nicht einmal auf der Hochschule lernen müssen?Ich glaube, den Mittelschulstoff bringt man auf 480 Seiten unter. 60 Seiten pro Jahr, 1,5 Seiten pro Woche, bei drei Mathematikstunden pro Woche ist das eine halbe Seite Stoff. (Und da bin ich schon großzügig)
Der Rest ist Erklärung, Erklärung, Erklärung, Rechnen üben, Rechnen üben und den Kindern beibringen, dass sie sich das, was sie in der 1. Klasse gelernt haben, bis zur 8. merken müssen.
Also prinzipiell müsste man den Stoff in einem Jahr durchnehmen können. Auf der Hochschule hätte man für den gleichen Stoff 1,5 Monate Lernzeit zu allozieren.
Mathematik ist so wie Turnen. Man muss es richtig gezeigt bekommen, man muss bei den ersten Griffen die richtige Unterstützung bekommen, danach heißt es Üben, Üben, Üben.
So wie man sich für einen Marathonlauf monate vorher vorbereitet. Da läuft man auch hundertmal die gleiche Strecke, damit man Kondition tankt.
Es gibt auch so etwas wie eine Kondition des Gehirns.
2000 Seiten? Da sind schon wohl 200 Seiten Funktionentheorie und 200 Seiten Darstellende enthalten.
Ein Formelbuch für die Oberstufe hat vielleicht 30 Seiten. Jede Formel sollte der Lehrer ohne Buchunterstützung ableiten können. Dann kann er sie auch erklären...
Jaja (Gast) antwortete am 15. Dez, 22:36:
Mathebücher in der Grundschule...
die, die mir bekannt sind, haben pro Schuljahr etwa 100 bis 150 Seiten. Dies hochgerechnet auf 13 Jahre plus etliche Arbeitsblätter, die man aufgedrückt bekommt, habe ich mal großzügig auf 2000 gerundet. Aber letztendlich kommt es auf ein paar hundert Seiten mehr oder weniger nicht an. Kann aber sein, dass die Bücher in den weiterführenden Schulen dünner sind als in der Grundschule. Das von mir erstellte Matheheft für Klasse 3 hat 10 Seiten. Darin ist alles abgehandelt, was wichtig ist. Ich wollte mit dem Beispiel der Mathematik aber eigentlich nur zum Ausdruck bringen, dass gerade die - scheinbare - Stofffülle in Mathe, viele Kinder in ihrer Autonomie beraubt, obgleich sie vieles von alledem schneller lernen könnten, wenn man sie einfach mal in Ruhe ließe.
"Over 70 years ago ... children learnt no formal arithmetic until grade 6 (about age 11). The program's creator, Superintendent Louis Benezet, describes it like this:"
https://www.inference.phy.cam.ac.uk/sanjoy/benezet/
Jaja (Gast) antwortete am 15. Dez, 22:46:
Weniger ist mehr...
Im Jahre 1929 forderte der Schulrat in Ithaca, New York, seine Kollegen in anderen Städten mit folgender Frage heraus: Was können wir aus den Lehrplänen der Grundschulen streichen? ...... Einer der Empfänger dieser Herausforderung war L.P. Benezet, Schulrat in Manchester, New Hampshire, der mit diesem empörenden Vorschlag antwortete: Wir sollten auf Arithmetik verzichten! Benezet argumentierte, dass die Zeit, die man in den frühen Schuljahren mit Arithmetik verbrachte, vergeudete Mühen wären. Er schrieb: "Seit ein paar Jahren stelle ich fest, dass die frühe Einführung von Arithmetik dazu führte, dass das logische Denken von Kindern abstumpft und wie mit Choloroform betäubt wird." Der ganze Drill behauptete er, führe dazu, dass die Kinder das Fachgebiet der Zahlen und der Arithmetik von ihrem gesunden Menschenverstand trennten. Das Resultat sie, sie könnten die Berechnungen, die man ihnen vermittelte durchführen, aber sie verstünden nicht, was sie tun und könnten die Rechnungen nicht auf reale Probleme anwenden. ...
... Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Benezet zeigte, dass die Kinder, die nur in der 6. Klasse ein Jahr lang Arithmetikunterricht erteilt bekamen, wenigstens genauso gut und bei Sachaufgaben viel besser rechnen konnten als Kinder, die jahrelang Arithmetik-Training erhielten. Dies war umso bemerkenswerter, da die Kinder, die nur ein Jahr lang Arithmetikunterricht erhielten aus den ärmsten Familien kamen, die zuvor die schlechtesten Testergebnisse erreichten. Warum hat fast kein Lehrer jemals von diesem Experiment gehört? ...
steppenhund antwortete am 15. Dez, 22:46:
Naja, die 10 Seiten für die Klasse 3 deckt sich mit meiner Erwartungshaltung. Das sind dann 130 Seiten für den gesamten Stoff. Man könnte dann noch 30 Seiten für Aufgaben und Lösungen bereit halten. (Ich habe mich übrigens auf die Klassen von 10 Jahren bis 17 Jahren bezogen, 1-8 in Österreich, Die Volksschule habe ich nicht betrachtet. Dafür braucht man vielleicht insgesamt 10 Seiten. Einmaleins und Dreisatz, der Rest wäre eher Deutschunterricht:)Das Beispiel von Benezet klingt nett. Ich habe in den 70er Jahren aber auch von einem Versuch in Frankreich gelesen, wo man in der ersten Klasse Volksschule schon mit Topologie angefangen hat. Die Kinder haben das anstandslos hinbekommen, obwohl die meisten Erwachsenen nichts mit einer offenen oder geschlossenen Menge, geschweige denn mit einem Überdeckungstheorem etwas anfangen können. Schade, dass ich mich nicht mehr an die Quelle erinnern kann.
Aber 130 Seiten, auf das könnten wir uns einigen:)
steppenhund antwortete am 15. Dez, 22:55:
@jaja
Antwort auf ihr zweites Posting.Ich weiss nicht genau, was sie unter Arithmetik verstehen.
Wenn Sie mit den Grundrechnungsarten erst in der 6. Klasse anfangen, dann müssen die Kinder sie lernen.
Wenn sie in der ersten Klasse anfangen, können sie sich spielend vertraut machen. Für mich ist es überdies gefährlich, sich auf die Berechnung von Taschenrechnern zu verlassen. Das kleine Einmaleins ist einfach notwendig für Plausibilitätsbetrachtungen.
Was außerdem sehr wichtig ist, sind die Beurteilungen von Größenverhältnissen.
Wieviel Badewannen braucht man, um den Trinkwasserhaushalt Wiens zu versorgen. Nur das Wasser, was die Leute zum Trinken brauchen. Warum ist Duschen wassersparender als Baden?
Solche Überlegungen sollten erwachsene Menschen einmal anstellen können.
Wenn man heute Erwachsenen solche Fragen stellt, kommt ein "Hä?" als Antwort zurück. SOLCHEN Erwachsenen kann man dann jede noch so unsinnige Statistik andrehen oder Wahlversprechungen so formulieren, dass die Menschen nicht einmal merken, wenn sie über den Tisch gezogen werden.
Für Mathematik benötigt man ein "Gefühl". Und das lässt sich nur durch Üben lernen.
Ich glaube durchaus, das die Mehrzahl der Befragten auf die Dampferaufgabe bei Benezet 37 gesagt hat. Ich weiß aber, dass in meiner Schulklasse, als ich selbst zur Schule ging, keiner, nicht einmal der Schwächste, so blöd geantwortet hätte.
Also es gibt da mittlerweile schon einen Unterschied im Lehrstoff oder vor allem was aus einem Lehrstoff herausgezogen werden kann.
Jaja (Gast) antwortete am 15. Dez, 23:04:
Steppenhund, ...
...gegen Arithmetik ist nichts einzuwenden, solange sie sich aus dem betrachteten Phänomen ergibt bzw. sie ihr innewohnt. Benezets Ergebnisse richten sich, wenn ich mich recht erinnere, gegen die systematische(!) Vermittlung von Arithmetik wie sie aber tagtäglich in den Grundschulen praktiziert wird. Diese kostet viiiiiiel Zeit und scheint offenbar auch nicht nötig, wie in Benezets Untersuchungen verdeutlicht wird. Wenn man nun bedenkt, was Kinder in dieser - ich sage jetzt auch mal ;) - systematisch gesparten Zeit machen könnten, um autonom zu arbeiten, da wäre schon viel gewonnen auf allen Seiten.
steppenhund antwortete am 18. Dez, 15:22:
zum Mathematik-Unterricht
Das halte ich für eine ganz tolle Interpretation und sie trifft meine Meinung auf den Punkt.Ich denke, dass dieser Lehrer seinen Kindern auch das beibringen kann, was er ihnen beibringen will.
https://steppenhund.twoday.net/stories/mathematik-ist-nicht-linear/